Die Lotsen am Nord-Ostsee-Kanal
Das hätte übel ausgehen können an jenem Tag, als der Wachhabende im Leuchtturm Kiel einen Frachter aus Osteuropa unaufhaltsam auf die gefährliche Untiefe Kleverberg zuhalten sah. Ein Lotse war, entgegen der Vorschrift, nicht angefordert worden. Funkkontakt kam nicht zustande. Nun raste das Lotsenboot los, machte sich lautstark bemerkbar – keine Reaktion. Und dann erstarrte der Lotse, der es irgendwie an Bord geschafft hatte: Die Brücke war leer! Der Kapitän machte ein Nickerchen.
So dramatisch sieht Lotsen-Alltag am Nord-Ostsee-Kanal glücklicherweise nur selten aus. Da berät der Lotse – ein erfahrener Nautiker mit „Großem Patent“, mit spezieller Lotsenausbildung und exzellenter Ortskenntnis – den fremden Kapitän auf der Fahrt durch den Kanal. Denn der Nord-Ostsee-Kanal ist kurvig, eng und verkehrsreich. Etwa 30.000 lotsbesetzte Schiffe, dazu nochmal ebenso viele kleine – Sportboote z.B. - sind auf ihm jährlich unterwegs, begegnen einander. Ohne den Lotsen auf der Brücke würde es wahrscheinlich oft krachen. Zumindest in die Böschung. Deshalb ist die Beiordnung eines Lotsen in engen und flachen Küstengewässern wie dem Kanal für größere Schiffe gesetzlich vorgeschrieben.
Für uns Landratten sind Lotsen fast immer unsichtbar, außer an der Lotsenversetzstation Rüsterbergen, bei Kanalkilometer 55. Hier kann man – manchmal mit angehaltenem Atem – zusehen, wie der Lotse aus Kiel an steiler Bordwand hinunter ein Schiff verlässt und der Kollege aus Brunsbüttel hinaufsteigt. Oder umgekehrt. Denn die Lotsen aus Brunsbüttel und Kiel haben den Kanal unter sich aufgeteilt. Rüsterbergen ist die Grenze der beiden Kanalreviere NOK I und NOK II. NOK II umfasst den östlichen Teil, damit auch die Kieler und die Flensburger Förde und Travemünde. Es ist der größere Bezirk. Er wird von einer Riesenfamilie mit rund 160 Lotsenbrüdern betreut.
Denn deutsche Seelotsen sind in Brüderschaften organisiert. Sie verwalten sich selbst, sie arbeiten freiberuflich in staatlichem Auftrag und teilen ihre Einnahmen brüderlich. Sie leben Sozialismus in seiner ursprünglichen Form. Ihren Interessenvertreterwählen sie aus ihren Reihen: den Ältermann. Bei NOK II ist es Martin Finnberg. Sein Aussehen überrascht: Er ist das, was man „im besten Mannesalter“ nennt. Das Erstaunen ist ihm nicht neu: „Der Ältermann war früher der gewählte Vorsteher einer Zunft, das hatte und hat nicht direkt etwas mit Alter zu tun.“ Topfit muss ein Lotse ja sowieso sein. Alle drei Jahre muss jeder zum gründlichen Gesundheitscheck, auch er. Auch wenn er überwiegend Organisationsarbeit übernimmt, kann er seine Bestallung nur durch regelmäßige Einsätze an Bord und Fortbildung am Simulator beibehalten.
Martin Finnberg wohnt außerhalb von Kiel, wie viele seiner Kollegen. Das ist kein Problem, denn spätestens zwei Stunden vor dem Einsatz muss sich jedes Schiff über Funk oder Mail anmelden. „Früher“, sagt er, „mussten alle Lotsen hier in Holtenau wohnen. Einer stand im Ausguck im „Lotsenturm“ beim heutigen Holtenauer Leuchtturm. Wenn der ein Schiff sah, telefonierte er den nächsten Lotsen an. Damit das klappte, hatten die Lotsen im Stadtteil ihr eigenes Amts-Telefonnetz.“
Und heute? Wir gehen auf die Schleuseninsel hinüber. Unten hat das Lotsenboot gerade einen Mann aufgenommen, um ihn zum nächsten Einsatz zu bringen. In der Wache sitzt ein Lotse vor mehreren Bildschirmen, Tabellen und Seekarten. Er hört nicht nur per Funk, er sieht auch auf dem Schirm, wie Schiffe sich nähern. Aber wie in alten Zeiten hat er ein Papier mit den Namen seiner „Brüder“ neben sich: Der Oberste in der Liste bekommt den nächsten Auftrag, wer nach getaner Arbeit von Bord geht, wird an die letzte Stelle gesetzt. Ein Durchlauf dauert, je nach Verkehrsaufkommen, zwischen und Stunden. Der NOK ist ein Revier, das sehr stark auf Wetter, Brennstoffpreis und wirtschaftliche Rahmenbedingungen reagiert. Das macht eine sichere Freizeitplanung oft nicht möglich.
Knurrhahn heißt der Gesangsverein der Kieler Seelotsen, der in Wirklichkeit viel mehr ist als nur ein Gesang- und Geselligkeitsverein. Er ist die menschgewordene PRAbteilung der Kieler Seelotsen und ergänzt einige maritime Veranstaltungen in Norddeutschland. Er bietet engen Kontakt der ehemaligen mit den aktiven Lotsen, der Alten mit den Jungen. Wie in einer richtigen Familie eben
©Barbara Kotte