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Lebendige Nostalgie - Der Tiessenkai in Kiel-Holtenau

Pott Kaffee in der Hand, Sonne im Gesicht, das leise Tuckern eines Schiffsmotors im Ohr – totale Entspannung! Auf dem schönen, alten Dreimaster am Kai flattert Wäsche im Wind, dahinter schiebt sich sachte ein Containerriese in die Holtenauer Schleuse. Am Tiessenkai lässt sich‘s gut aushalten! „Hermann Tiessen Schiffsausrüstungen“ steht seit über 90 Jahren über der Tür des rot geklinkerten Kontorhäuschens, aus dem der Kaffeeduft kommt. Das ist irreführend – und auch wieder nicht. Denn wo heute ein „Schiffercafé“ einlädt, haben die Tiessens fast achtzig Jahre Seeleute mit allem versorgt, was an Bord benötigt wurde. Erst Hermann, dann sein Sohn Günter. Der war an der Küste so populär, dass der Kai im Jahre 1977 nach ihm benannt wurde.

Im kleinen Kontorhaus des Schiffsausrüsters Hermann Tiessen schlug und schlägt das nostalgische Herz des Kais. Es begann als eine Art Tante-Emma-Laden für Seeleute vor über 90 Jahren zu schlagen. In einem Laden mit deckenhohem dunkelgrünem Schubladenregal, das heute noch dem Schankraum des Schiffercafés seinen Charakter gibt. Das Geschäft florierte. Und so entstand im Laufe der Jahre hinter dem Ladengebäude ein verwirrend verzweigtes Labyrinth an gut gefüllten Lagerräumen.

Sohn Günter Tiessen, er führte die Firma von 1966 bis 2004, hatte schließlich auf 1.500 Quadratmetern rund 25.000 Artikel vorrätig. „Pütt un Pan un Mausefallen“, pflegte er strahlend und stolz zu umschreiben. Uns Landratten gingen die Augen über, wenn wir mit ihm durch dieses Wunderland gehen durften. Da gab es Lotsenleitern und Klobürsten, Pudelmützen, Schiffslaternen und Spielkarten, 125 Sorten Glühbirnen und Flaggen für fast jedes Land der Welt. Und natürlich alles für die Kombüse, taufrisch und gefroren. Hinter Gittern ein riesiges Zollager mit Tabakwaren und Alkoholika. Sonderwünsche erfüllte Günter Tiessen mit Vergnügen und sofort: mal ein Klavier, mal einen Hund für den Kapitän, mal Verlobungsringe. Und er half auch ganz normalen Kielern. Es war ja die Zeit, als es noch keine Supermarkt-Tankstellen gab. Wenn spätabends oder am Wochenende etwas im Haushalt fehlte, hatten Insider damals eine rettende Adresse: Tiessen! Der hatte rund um die Uhr geöffnet. Er war ein Mann, der bis ins hohe Alter mit der Firma seinen Traum lebte, der vergnügt sieben Tage die Woche in weißem Hemd und roter Strickweste bis spätabends an seinem Schreibtisch hinterm Laden saß und fast jeden Kapitän mit Namen kannte. Donnerstags allerdings ging er früher, da war Probe im Lotsengesangverein Knurrhahn, er war Ehrenmitglied. Schweren Herzens gab Günter Tiessen im Alter von 83 Jahren 2004 sein Geschäft in jüngere Hände. Auch weil der Zoll auf elektronischer Verwaltung bestand. Und das war einfach nichts für ihn, der ja seinen Computer im Kopf hatte.

Wo Günter Tiessens Schreibtisch stand, ist heute die kleine Küche des rustikalen Schiffercafés. Gut einkehren kann man auch gleich um die Ecke im „Luzifer im Fördeblick“. Bei gutem Wetter kann man es sich in der Container-Bar der ‚‚Hafenwirtschaft‘‘ gut gehen lassen. Sein Besitzer erinnert sich gerne an einen spannenden Schulferienjob – bei Günter Tiessen.

Alles hier steht unter Denkmalschutz: das Kanalpackhaus, rund 240 Jahre alt, das ehemalige Zollhaus, der Stall für die Treidelpferde, die Treidelscheune. Relikte der Zeit vor dem Nord-Ostsee-Kanal, in der die Schiffe von Pferden durch den Eiderkanal gezogen (getreidelt) wurden. Auch das ganze Ensemble der kleinen Kontorhäuschen am Kai, obwohl etwas später entstanden, ist denkmalgeschützt, der Leuchtturm an der Ostspitze sowieso. Heute ist er ein beliebter Ort zum romantischen „Heiraten mit Weitblick“. Unterhalb des Turms sind Heringsangler glücklich: Die Fische passieren den Kai in Wurfweite.

Strahlende Augen auch jeden Sonntagnachmittag von vier bis sieben im „Schiffercafé“. In der kleinen Diele gleiten dann Kiels beste Tangotänzer zu melancholischen Klängen stolz über den Bretterboden. Ein Stück lebendige, liebenswerte Nostalgie – der Tiessenkai in Kiel-Holtenau.

©Barbara Kotte

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